Die Schachbretttafel von Ellrich – ein Erlebnis im
Grenzbereich Helmut Lang
Bei
Recherchen zu einem Modelleisenbahner-Artikel, der die ehemalige Kleinbahn
Ellrich - Zorge zum Inhalt hat, bin ich auf einen Artikel gestoßen, der meiner
Meinung nach auch für die Leser der „Harzbahnpost“ interessant sein dürfte. Er
erschien in der Urfassung in der Ausgabe 256 (Juni/Juli 2014) in der
„Drehscheibe“ und wurde danach vom Autor noch einmal umgearbeitet.Ein
(westlicher) Reisebericht vom Mai 1985 mit Ergänzungen aus dem Jahr 2014
Peter Pechstein Signalfreunde
kennen das: man hegt eine besondere Sympathie für ein bestimm-tes, seltenes
Eisenbahnsignal und setzt alles daran, sämtliche Vertreter jener Art ausfindig
zu machen. Ein solches Such- und Sammelobjekt war einst die Schachbretttafel,
benannt nach ihrem schach-brettartigen Muster aus schwarzen und weißen
Rechtecken. Sie kennzeichnet den regelwidrigen* Standort eines Hauptsignals,
weist also immer auf eine ungewöhnliche Betriebssituation hin.In
den 1980er Jahren gab es in Deutschland zwei Staatsbahnen, beide mit eigenen
Signalvorschriften: die DS 301 bei der Deutschen Bundesbahn und die DV 301 bei
der Deutschen Reichsbahn. In der DS 301 war die Schachbretttafel das Nebensignal
Ne 4, in der DV 301 das Sonstige Signal So 2.Als ortsfestes Signal
kam die Schachbretttafel in den 1980er Jahren relativ selten vor. Die Bundesbahn
besaß nur etwa dreißig Stück davon. Bei der Reichsbahn gab es die Tafel
häufiger. Heute ist die orts-feste Schachbretttafel bundesweit keine Seltenheit
mehr - aufgrund einer Änderung der Signalvor-schriften existiert sie seit 2003
in großer Zahl.Eines Tages im Jahre 1985 war zu erfahren, dass eine
Schachbretttafel der Reichsbahn fotografiert werden könne, ohne eigens in die
DDR einreisen zu müssen. Sie befinde sich auf der Südharzstrecke im
thüringischen Bahnhof Ellrich, stehe genau auf der innerdeutschen Grenze und
gehöre zum links vom Gleis aufgestellten Einfahrsignal "A". Die
Grenzübergangsstelle Ellrich war ausschließlich Güter-zügen vorbehalten.Auf
der niedersächsischen Seite ist Walkenried der letzte Bahnhof vor der Grenze.
Den anschließenden Streckenabschnitt bis Ellrich quert ein stattlicher Höhenzug
namens Himmelreich. Die Bahn nutzt den 269 Meter langen Walkenrieder Tunnel,
doch für Fußgänger führt der kürzeste Pfad von Walkenried nach Ellrich über das
Himmelreich.Die Grenzlinie zwischen Niedersachsen und Thüringen
nähert sich zwischen dem Tunnelausgang und dem Bahnhof Ellrich von Norden her
der Bahntrasse. Sie begleitet das Gleis auf der Thüringer Seite mit wenigen
Metern Abstand. Dann vollführt sie einen kurzen Doppelknick, kreuzt die Schienen
und verläuft nun auf der niedersächsischen Seite neben der Trasse. Unweit der
Ellricher Einfahrweiche biegt die Grenzlinie dann nach Süden ab. Große
Warntafeln „Halt! Hier Zonengrenze“ säumten anno 1985 die Bahn. Diese Tafeln,
und nicht etwa ein Metallgitterzaun, markierten den tatsächlichen Grenzverlauf.
Daher war es ohne weiteres möglich, die Grenze ungewollt zu überschreiten.Der
Schienenstrang führte ostwärts geradewegs durch den Bahnhof Ellrich. Ein über
dem Gleis be-findliches Tor aus Eisenrohren und Drahtgeflecht verschloss die
Einfahrt. Rund zwanzig Meter vor dem Tor war links vom Gleis das Einfahrsignal A
aufgestellt, ein zweiflügeliges Formhauptsignal. Im Bundesbahn-Verzeichnis der
Langsamfahrstellen, der La, hieß es dazu: „Bei Hp 0 ist Tor über das
Streckengleis geschlossen. Hg 20 km/h für allein fahrende Tfz.“Rechts
in Höhe des Einfahrsignals stand eine hohe Schachbretttafel neben dem Gleis, das
Ziel unserer Reise. Sie befand sich auf dem schmalen Randstreifen zwischen Gleis
und Grenzlinie. Man hätte sie mit ausgestrecktem Arm von Niedersachsen aus
berühren können.Links vom Einfahrsignal war zwischen den Grenzzäunen
ein weiteres Bahngleis zu erkennen, das aus dem Bahnhof herausführte und im
Bogen die Anhöhe gewann. Es gehörte der früheren Kleinbahn nach Zorge und diente
später als Anschluß der Gießerei-Sandwerke Nudersdorf.Nicht weit vom
westlichen Ellricher Stellwerk, quer über mehrere Gleise, befand sich eine von
zwei Kontrollbrücken. Wir wurden beobachtet: Grenzsoldaten richteten ihre
Feldstecher auf uns.*
* Anm. d. Red:. Die Formulierung „regelwidrig“ ist hier nicht ganz passend. Es
ist richtig, daß Signale „in der Regel“ in Fahrtrichtung rechts vom Gleis
aufgestellt werden, die Aufstellung links verstößt aber nicht gegen
Vorschriften. Genau deshalb ist ja auch die Schachbretttafel Bestandteil des
Signalbuches und damit der Vorschriften.
Foto (Johannes Glöckner): Ein Blick auf das Grenztor über
die Gleise – rechts steht die erwähnte Schachbretttafel,
links steht das Einfahrsignal.
Foto (Johannes Glöckner): Ein Blick durch das Grenz-tor
auf den Bahnhof Ellrich.
Eigentlich hatten wir das Einfahrsignal an einer etwas anderen Stelle erwartet,
denn ursprünglich befand es sich hinter und nicht vor dem Tor. Auch dort hatte
es links gestanden, denn rechts war der Platz wegen eines Grenzzauns sehr
eingeengt. Vielleicht wurde die regelwidrige* Aufstellungsweise bei
Änderung des Standorts einfach nur beibehalten. Eine andere Ursache für die
Linksaufstellung war 1985 nicht erkennbar. Mangelnde Signalsicht schied als
Grund aus, denn in der langen Geraden zwischen Tunnel und Grenze war das
Hauptsignal von weitem gut zu erkennen. Zum Einfahrsignal A gehörte das
Vorsignal Va; ebenfalls eine Besonderheit. Es befand sich auf niedersächsischem
Boden rund 550 Meter vor der Grenze, war jedoch Eigentum der Deutschen
Reichsbahn.
* siehe Anmerkung oben
Mit seinem einzelnen Gelblicht und der roten Propangasflasche war dieses
Formvorsignal im Gebiet der Bundesbahn sicherlich ein Solitär.Die
regelmäßige Wartung des Vorsignals wurde von einem Streckenläufer der Reichsbahn
durch-geführt. Der für das Signal vermeintlich zuständige "Rentner aus
Walkenried" existierte nicht.Das Vorsignal zeigte ausschließlich
„’Halt’ erwarten“. Es gab keine Stelldrähte. Der am Gleis installierte
Indusi-Magnet war ständig wirksam. Erstaunlicherweise wurde am
Hauptsignal auf die induktive Zugsicherung verzichtet. Bei Haltstellung des
Einfahrsignals führte der Fahrweg hinter dem Grenztor über eine abzweigende
Doppelkreuzweiche und endete am Prellbock.Am Grenzübergang Ellrich
gab es noch eine dritte Signalbesonderheit. Sie befand sich quasi im Rücken des
Einfahrsignals. Es handelte sich um eine Neigungswechseltafel der Bundesbahn,
aufgestellt auf thüringischem Gebiet. Sie markierte den Beginn der 1,3 km langen
Streckensteigung nach Walkenried. Obwohl die Tafel nur von 1958 bis 1972 im
Signalbuch verzeichnet war, konnte sie noch 2001 in Ellrich angetroffen werden.Am
9. November 1989 wurde die Grenze geöffnet. Bei unserem ersten Besuch 1985
hatten wir sie noch als unabänderlich angesehen und nicht im Traum daran
gedacht, daß sich dieser Zustand bald einmal ändern könnte.Ellrich
2014. Der Weg von Walkenried über das Himmelreich nach Ellrich präsentiert sich
unverändert wie vor knapp dreißig Jahren. Er führt an den einstigen Außenmauern
der von 1884 bis 1926 be-triebenen Gipsfabrik Juliushütte entlang. Die Fabrik
lag anfangs zwar innerhalb der braunschweigischen Gemeinde Walkenried, sie war
verkehrstechnisch jedoch an das preußische Ellrich angebunden, das Anschlußgleis
eingeschlossen. In der Zeit des Dritten Reichs wurde auf dem
Werksgelände der Juliushütte ein Konzentrationslager angelegt. Über 7000
Menschen waren dort unter schrecklichsten Bedingungen inhaftiert. Arbeitsfähige
Personen wurden täglich mit der Bahn nach Niedersachswerfen transportiert, um im
dortigen Gips-massiv Kohnstein (das KZ Mittelbau „Dora“ liegt an dessen
Südseite) die V1- und V2-Raketen zu produzieren. In der Juliushütte ermordete
Häftlinge wurden im Pontel-Teich versenkt. Im Jahre 2014 weisen
örtliche Hinweistafeln auf das Geschehen hin. Anno 1985 sind wir nichtsahnend
durch das geschichtsträchtige Gebiet gewandert.1955 war ein Teil der
Juliushütte abgebrannt, 1964 wurden die verbliebenen Teile gesprengt und dem
Erdboden gleichgemacht. Das Gelände ist mittlerweile dicht bewachsen. Reste des
KZ blieben als Gedenkstätte erhalten. Im Bahnhof Ellrich befindet sich – jetzt
frei zugänglich – auf einer Wiese der Unterbau des ehemaligen Küchengebäudes.
Direkt über das Gelände verläuft die Landesgrenze. Sie ist unsichtbar.Die
Szenerie in Ellrich hat sich seit 1985 einschneidend verändert. Es gibt nur noch
wenige Relikte, die an den früheren Übergang erinnern. Wo sich einst Streckentor
und Einfahrsignal befanden, ist von den Grenzanlagen quasi nichts mehr zu sehen.Natürlich
ist auch die Ellricher Schachbretttafel längst passé. Das Einfahrsignal A wurde
Anfang der 1990er Jahre noch für kurze Zeit auf die rechte Gleisseite in
Richtung Walkenried versetzt. Der neue Standort befand sich nur wenige Meter
hinter der Stelle, wo die Grenzlinie die Bahntrasse quert. Man erkennt deren
Lage am Zusammentreffen von Y-Schwellen und Betonschwellen. Die Ellricher
Formsignale wurden 1993 durch Lichtsignale vom Typ Hl (sprich H-L) ersetzt.Auf
der Anhöhe nördlich der Bahn, wo einst Metallgitterzäune standen, breitet sich
jetzt die Vegetation aus. Die Schienen der Kleinbahnstrecke nach Zorge sind
teilweise noch vorhanden, verbergen sich allerdings unter Kraut und Gestrüpp.In
Ellrich finden regelmäßig Zugkreuzungen statt. Während der Triebwagen aus
Nordhausen dabei auf dem durchgehenden Hauptgleis bleibt, weicht der
entgegenkommende Triebwagen von Northeim nach Gleis 2 aus.Das
Einfahrvorsignal Va aus Richtung Walkenried (ein Hl-Lichtsignal) steht heute vor
dem Westportal des Himmelreichtunnels. Ein ausgetretener Waldweg kreuzt das
Gleis und führt am Fuße der Felswand zum Itel-Teich. Das Betreten des Bahnwegs
auf der Trasse des früheren zweiten Gleises ist streng verboten. Der kürzeste
Pfad von Walkenried nach Ellrich führt auch weiterhin über das Himmelreich.